Andreas Troxler, v1, 6. September 2022. Artikel zum Download
Vor knapp zwei Jahren wurde im Schweizer Nationalrat eine parlametarische Initiative eingereicht, welche die folgende Ergänzung des Krankenversicherungsaufsichtsgesetzes (KVAG) vorsieht:
Art. 14bis (neu)
Überschussbeteiligung
Belaufen sich die Reserven eines Versicherers auf mehr als 150 Prozent der Mindesthöhe, so wird der Überschuss im folgenden Jahr als Anzahlung an die Prämien auf die Versicherten aufgeteilt. Der Betrag wird pro Kanton und pro Versichertenkategorie im Verhältnis zu den bezahlten Prämien verteilt.
In der Begründung wird behauptet, der Maximalwert von 150 % böte eine «hinreichende Sicherheit». Warum dem so sei, bleibt unklar.
Die letzten zwei Jahre haben neue Erkenntnisse gebracht. Der vorliegende Artikel verwendet diese, um die vorgeschlagene automatische Überschussbeteiligung einem Realitätstest zu unterziehen.
Die wesentlichen Ergebnisse sind:
- Die Mindesthöhe der Reserven ist kein Zielwert. Eine Überdeckung ist notwendig, um einen starken Jo-Jo-Effekt bei den Prämien zu vermeiden.
- Ein pauschaler Maximalwert von 150 % der Mindesthöhe bietet keine ausreichende Sicherheit. Im Vergleich zur jährlichen Schwankungsbreite der einzelnen Solvenzquoten ist er zu knapp bemessen. Dies würde immer wieder zu Unterdeckung einzelner Versicherer führen, gefolgt von einer entsprechenden Prämienerhöhung (Jo-Jo-Effekt).
- Die Jahre 2021 und 2022 zeigen, dass die Reserven insgesamt nicht überhöht sind. Wegen der starken Kostenanstiegs in 2021 ist die durchschnittliche Solvenzquote bereits per 1.1.2022 substantiell gesunken. Der Trend setzt sich in 2022 fort, da die Kosten im hochinflationären Umfeld weiter ansteigen, die mittleren Prämien hingegen rückläufig waren. Gleichzeitig entstanden im Kontext des Ukrainekrieges und der Massnahmen der Zentralbanken zur Inflationsbekämpfung Verluste auf der Kapitalanlageseite.
- Eine Aufweichung der Solvenzbedingung würde das System weiter destabilisieren.
- Das Kernproblem der rasant steigenden Gesundheitskosten wird nicht gelöst.
- Das Zielband für die Reserve muss die Situation des einzelnen Versicherers berücksichtigen. Das ist mit der bestehenden Möglichkeit zum freiwilligen Reserveabbau bereits möglich, ohne neue Probleme zu schaffen.
Diese Ergebnisse werden in den folgenden Abschnitten hergeleitet. Sie beziehen sich auf den Gesamtmarkt. Auf der Stufe einzelner Versicherer sind Abweichungen zu erwarten.
Begrifflichkeiten: Reserven, Mindesthöhe, Solvenzquote, …
Die Krankenversicherer müssen ausreichende Reserven bilden. Diese garantieren die langfristige Zahlungsfähigkeit der Krankenversicherer, d.h. die Solvenz. Ein etwaiger Verlust eines Krankenversicherers wird über die Reserven finanziert, während ein etwaiger Gewinn in die Reserven fliesst. Es fliesst also kein Geld aus dem System.
Seit 2012 wird die Mindesthöhe der Reserven mit dem sogenannten KVG-Solvenztest bestimmt, unter Berücksichtigung der Risiken des Versicherers. Diese Risiken umfassen die Unwägbarkeiten der Entwicklung der Gesundheitskosten, des Versichertenbestands, der Finanzmärkte und der Kreditwürdigkeit der Schuldner. Die vorhandenen Reserven werden mittels marktnaher Bewertung der Bilanz bestimmt.
Die Solvenzquote berechnet sich als Quotient der vorhandenen Reserven und der Mindesthöhe der Reserven. Eine Solvenzquote von 100 % bedeutet, dass die vorhandenen Reserven exakt der Mindesthöhe entsprechen. Das KVAG schreibt vor, dass die Solvenzquote mindestens 100 % betragen muss.
Sind die vorhanden Reserven höher als die Mindesthöhe, so ist die Solvenzquote höher als 100 %. Man spricht dann von einer Überdeckung.
Im umgekehrten Fall (vorhandene Reserven geringer als die Mindesthöhe) ist die Solvenzquote unter 100 %, und man spricht von einer Unterdeckung. Dieser Fall trat in der Vergangenheit immer wieder auf. In dieser Situation muss der Versicherer Massnahmen einleiten, um die Mindesthöhe wieder zu erreichen. Die Finanzierung durch Zuschüsse einer Muttergesellschaft ist unzulässig. Mögliche Massnahmen sind:
- Erhöhung der Prämien im nächsten Jahr, auf ein Niveau, das die zu deckenden Kosten übersteigt. Der entstehende Gewinn fliesst in die Reserven.
- Reduktion der Risiken und damit der Mindesthöhe. Beispielsweise könnte der Versicherer seine Aktien, Immobilien und Obligationen verkaufen oder Absicherungsgeschäfte tätigen. Solcherlei mindert jedoch die Kapitalerträge, was wiederum durch höhere Prämien kompensiert werden muss.
Es ist somit gar nicht so einfach, die Reserven nach einer Unterdeckung wieder auf die Mindesthöhe anzuheben.
Die Aufsichtsbehörde kann auch sichernde Massnahmen anordnen, insbesondere Prämienerhöhungen.
So gab es in der Vergangenheit Prämienerhöhungen mitten im Jahr, in einem Fall im Mittel um über 10 %. Eine solche Situation ist für die Versicherten, den Versicherer, die Aufsichtsbehörde und die Politik äusserst widrig.
Deshalb sollte der Versicherer dafür sorgen, dass es gar nicht so weit kommt. Das erreicht er, indem er Reserven über der Mindesthöhe hält. Genau aus diesem Grund ist im Gesamtmarkt eine Überdeckung der Normalzustand. Nach dieser Einführung sind wir bereit für die Herleitung der obigen Kernaussagen.
1. Die Mindesthöhe der Reserven ist kein Zielwert. Eine Überdeckung ist notwendig, um einen starken Jo-Jo-Effekt bei den Prämien zu vermeiden.
Seit der Teilrevision der Krankenversicherungsaufsichtsverordnung (KVAV) in 2021 kann ein Versicherer durch «knappe Kalkulation» der Prämien seine Reserven abbauen, sofern er am Ende des folgenden Kalenderjahres noch die Mindesthöhe erreicht.
Hier wollen wir dem möglichen Missverständnis vorbeugen, der Mindestwert sei eine Art Zielgrösse für die Reserven.
Das ist nicht das ausdrückliche Ziel der parlamentarischen Initiative. Die Diskussion dieser Extremvariante ist jedoch erhellend.
Die Solvenzquoten der Versicherer schwanken von Jahr zu Jahr, da sich sowohl die vorhandenen Reserven als auch die Mindesthöhe der Reserven verändern. Dafür gibt es vielerlei Gründe, unter anderem:
- Die ungleichmässige Entwicklung der Gesundheitskosten erschwert die Festlegung kostendeckender Prämien.
- Der Risikoausgleich ist schwer zu prognostizieren.
- Die Kapitalerträge können von Jahr zu Jahr stark schwanken.
- Der künftige Versichertenbestand ist wegen der Versichererwechsel unbekannt.
- Freiwilliger Abbau von Reserven.
Die folgende Grafik zeigt, wie stark die Solvenzquoten in den letzten sieben Jahren geschwankt haben:
Wenn nun (hypothetisch) jeder Versicherer versuchen würde, die Reserven zu Jahresbeginn stets auf der Höhe der Mindestreserven zu halten, wäre damit zu rechnen, dass über ein Drittel (37 %) der Versicherer eine Unterdeckung von durchschnittlich 52 Prozentpunkten erleiden würde, und im Folgejahr seine Prämien erhöhen müsste. Die durchschnittliche Prämienerhöhung wäre ungefähr 10 %, wohlverstanden zusätzlich zu den Erhöhungen wegen steigender Gesundheitskosten.
Umgekehrt würde jedes Jahr rund die Hälfte der Versicherer die Prämie in einer ähnlichen Grössenordnung senken, um eine Überdeckung abzubauen.
Es ergäbe sich somit ein laufender Wechsel von Prämienerhöhungen und -Reduktionen, eben ein Jo-Jo-Effekt, im Mittel mit einer substantiellen und inakzeptablen Grössenordnung.
Dazu kommt ein dynamischer Effekt, nämlich das Verhalten der Versicherten.
Stellen Sie sich die folgende hypothetische Frage:
Der zu erwartende hohe Anteil der ersten Antwort würde die Fluktuation des Versichertenbestands erheblich steigern, die Schätzung der korrekten kostendeckenden Prämie erschweren und das System weiter destabilisieren.
Fazit: Die Mindesthöhe der Reserven ist kein Zielwert. Eine Überdeckung ist notwendig, um einen starken Jo-Jo-Effekt bei den Prämien zu vermeiden.
Es stellt sich nun die Frage, was die ideale Höhe der Überdeckung ist. Die parlamentarische Initiative gibt eine Antwort: Solvenzquote maximal 150 %!
2. Ein pauschaler Maximalwert von 150 % der Mindesthöhe bietet keine ausreichende Sicherheit.
Anhand der Information der obigen Grafik lässt sich für die Versicherer mit abnehmender Solvenzquote folgende naive Kopfrechnung anstellen:
Maximal 150 % Solvenzquote als Anfangswert – 50 % mittlere Abnahme = 100 % Endwert. Das passt doch! Wo ist denn das Problem? –
- Je nach Verlauf des Vorjahres gäbe es auch Versicherer mit einer anfänglichen Solvenzquote von weniger als 150 %.
- Die Abnahme um 50 Prozentpunkte ist ein Mittelwert über die Jahre und über alle Versicherer. Natürlich erleiden einige Versicherer eine stärkere Abnahme als der Mittelwert. Zudem gab es auch schon Jahre mit einer stärkeren durchschnittlichen Abnahme.
Damit ist gezeigt, dass der vorgeschlagene Maximalwert von 150 % die Situation einer Unterdeckung provozieren würde. Die durch die Obergrenze festgelegte maximale Überdeckung von 50 % ist gemessen an der Streubreite zu knapp. Aus dem gleichen Grund wie im vorigen Abschnitt würde das zu einem Jo-Jo-Effekt bei den Prämien und zu einer Destabilisierung führen.
Fazit: Ein pauschaler Maximalwert von 150 % der Mindesthöhe bietet keine ausreichende Sicherheit.
2. Nochmals: Ein pauschaler Maximalwert von 150 % der Mindesthöhe bietet keine ausreichende Sicherheit.
Diese Erkenntnis lässt sich auch aus einer anderen Perspektive erlangen.
Die folgende Grafik zeigt den zeitlichen Verlauf der durchschnittlichen Solvenzquote.
Im Zeitraum 2015 bis 2021 ist ein steigender Trend ersichtlich, mit Ausnahme von 2016.
Dieser Trend fand per 1.1.2022 ein jähes Ende, mit einem Rückgang der durchschnittlichen Solvenzquote von 207 % um 37 bis 67 Prozentpunkte auf 140 % bis 170 % (die definitiven Ergebnisse werden Ende September 2022 veröffentlicht). Der Hauptgrund dafür sind die im Jahr 2021 stark gestiegenen Gesundheitskosten. Dieses Thema wird im nächsten Abschnitt vertieft.
Was wäre, wenn die Obergrenze von 150 % bereits am 1.1.2021 in Kraft gewesen wäre?
- Die durchschnittliche Solvenzquote per 1.1.2021 wäre bei 148 % gelegen.
- Bei einer unveränderten Abnahme um 37 bis 67 Prozentpunkte wäre die durchschnittliche Solvenzquote per 1.1.2022 bei 81 % bis 111 % gelegen.
Diese Aussagen beziehen Sich auf den Durchschnitt. Angesichts der Streubreite der jährlichen Veränderung (siehe voriger Abschnitt), ist somit davon auszugehen, dass wesentlich mehr Versicherer per 1.1.2022 eine Unterdeckung erlitten hätten.
Nochmals: Ein pauschaler Maximalwert von 150 % der Mindesthöhe bietet keine ausreichende Sicherheit.
3. Die Jahre 2021 und 2022 zeigen, dass die Reserven insgesamt nicht überhöht sind.
Der starke Anstieg der Gesundheitskosten im Jahr 2021 ist durch den Kontext der Covid-19-Pandemie zu erklären.
Von März bis April 2020, während der ersten Welle, ordnete der Bundesrat einen Lockdown an. Um die Spitalkapazitäten zu sichern, wurden zudem alle elektiven Behandlungen während dieser Zeit ausgesetzt. Als Folge dieser Massnahmen ging das Leistungsvolumen im März und April 2020 im Vergleich zu den Vorjahren stark zurück. In den Folgemonaten erholte es sich, jedoch gingen im letzten Quartal 2020, während der zweiten Welle, die Spitalaufenthalte erneut zurück. Diese Effekte erklären den unterdurchschnittlichen Anstieg der Gesundheitskosten im Jahr 2020, um «nur» 1.2 %.
Es ist davon auszugehen, dass eine Vielzahl der Behandlungen, die im Jahr 2020, insbesondere im letzten Quartal, nicht stattgefunden haben, in das Jahr 2021 verschoben und ab dem Frühling, nach Abflauen der zweiten Welle, durchgeführt wurden. Das ist ein wesentlicher Treiber für den starken Anstieg der Leistungen im Jahr 2021, um ca. 6.9 %. Die Kosten für Covid-Impfungen kommen noch dazu.
Dieser Anstieg wurde in der Prämienfestlegung für das Jahr 2021 bekanntlich nicht antizipiert. Und just in 2021 wurde mit der Teilrevision der KVAV die Möglichkeit zum freiwilligen Reserveabbau mittels «knapper Kalkulation» der Prämien eingeführt.
Es gab noch Anfang 2022 Stimmen, die sagten:
«Reserven werden ja gerade für Ereignisse wie eine Pandemie gebildet. Jetzt haben wir eine solche Riesenkrise und man braucht die Reserven nicht, man konnte sie im Gegenteil sogar weiter anhäufen! Das ist der letzte Beweis, dass wir diese riesige Goldgrube nicht einmal im Krisenfall brauchen. Deshalb müssen die Reserven abgebaut werden, sofort.»
Das ist eine grobe Fehleinschätzung. Der signifikante Rückgang der durchschnittlichen Solvenzquote per 1.1.2022 widerlegt den «Beweis». Der Schock kam sehr wohl, bloss verzögert. Reserven sind gerade dazu da, solche unerwarteten Ereignisse abzufedern, und sie wurden gebraucht!
Im Jahr 2022 setzt sich der Trend fort: Dank der mit der KVAV-Teilevision geschaffenen Möglichkeit einer «knappen Kalkulation» war die mittlere Prämie mit einer Abnahme um 0.2 % erstmals seit 2008 rückläufig. Mit anderen Worten, der Kostenanstieg von 2021 ist in den Prämien für 2022 immer noch nicht abgebildet! Zudem steigen die Gesundheitskosten im inflationären Umfeld weiter an, sodass die Krankenversicherer weitere Verluste erleiden. Nur schon aus diesem Grund dürften die Solvenzquoten per 1.1.2023 noch weiter absinken.
Weiteres Ungemach kommt von anderer Seite. Getrieben durch den Kontext des Ukraine-Krieges und durch die Erhöhung der Zinsen führender Zentralbanken zur Eindämmung der Inflation sind die Werte vieler Anlageklassen seit dem Jahresbeginn signifikant gesunken. Im Juni notierten führende Schweizer Aktien- und Obligationenindizes 10 bis 15 Prozent unter ihrem Stand zu Jahresbeginn. Eine Wertminderung der Kapitalanlagen um 10 % reduziert die durchschnittliche Solvenzquote um ca. 20 bis 30 Prozentpunkte. Dies ist nicht einmal ein Extremszenario.
Es ist also damit zu rechnen, dass die durchschnittliche Solvenzquote per 1.1.2023 noch einmal niedriger als per 1.1.2022 ist. Dazu kommt der gewollte Effekt des freiwilligen Reserveabbaus.
Zusammengefasst zeigen die Jahre 2021 und 2022 ein rasantes Abschmelzen der als «völlig überhöht» gewähnten Reserven.
An dieser Stelle könnte das Fazit des vorigen Abschnittes wiederholt werden. Stattdessen:
Fazit: Die Jahre 2021 und 2022 zeigen, dass die Reserven insgesamt nicht überhöht sind.
4. Eine Aufweichung der Solvenzbedingung würde das System weiter destabilisieren.
In der Begründung zur parlamentarischen Initiative steht der Satz: «Nötigenfalls könnte der Bundesrat eine neue Mindestreserve festlegen, mit welcher der Fortbestand der Krankenkassen sichergestellt ist.»
In den vorigen Abschnitten haben wir festgestellt, dass nach einer Umsetzung der parlamentarischen Initiative das Risiko einer Unterdeckung für einzelne Versicherer steigen würde. Es stellt sich die Frage, wie viele (und wie grosse) Unternehmen betroffen sein müssten, bis der Bundesrat tatsächlich die Mindestreserve neu festlegen (sprich: reduzieren) würde.
Aus Gründen der Gleichbehandlung ist davon auszugehen, dass eine solche Reduktion alle Versicherer gleichermassen betreffen würde. Wegen des vorgeschlagenen neuen Art. 14bis KVAG würde im gleichen Zug auch die Maximale Reserve reduziert, da diese mit dem Faktor 150 % an Mindestreserve geknüpft ist.
Das bedeutet, dass in dieser Situation von gewissen Versicherern weitere Überschüsse ausbezahlt und somit die Puffer für die Abfederung von künftigen Schwankungen kleiner würden, was die vorher illustrierte Instabilität weiter verschärfen würde.
Somit scheint die Idee der Aufweichung der Solvenzbedingung wenig durchdacht. Sie ist etwa so sinnvoll wie eine Verkehrsampel, die immer dann ausgeschaltet wird, wenn sich jemand der Kreuzung nähert.
Fazit: Eine Aufweichung der Solvenzbedingung würde das System weiter destabilisieren.
5. Das Kernproblem der rasant steigenden Gesundheitskosten wird nicht gelöst.
Auf Basis der durchschnittlichen Solvenzquote per 1.1.2021 hätte die Umsetzung der parlamentarischen Initiative zu einer Überschussbeteiligung von im Mittel etwas mehr als einer Monatsprämie geführt, auf Kosten der Systemstabilität.
Mit den gegenwärtigen Solvenzquoten wird diese Hoffnung enttäuscht; dennoch wäre die Systemstabilität gestört.
Zudem wäre der Abbau der Reserven auf Ebene Gesamtmarkt bloss einmalig. Im Nachgang würden die Prämien im Mittel weiterhin der Inflation der Gesundheitskosten folgen, einfach mit erhöhter Volatilität.
Fazit: Das Kernproblem der rasant steigenden Gesundheitskosten wird nicht gelöst.
6. Das Zielband für die Reserve muss die Situation des einzelnen Versicherers berücksichtigen.
Nachdem feststeht, dass pauschal 150 % keine geeignete obere Grenze ist, stellt sich die Frage, welcher Wert stattdessen angemessen wäre.
Darauf gibt es keine allgemeingültige Antwort, denn das hängt von der Situation des jeweiligen Versicherers ab: Seiner Strategie, seinem Risikoappetit, sowie der Zusammensetzung seines Bestands und seiner Kapitalanlagen.
Aktuare können auf der Basis dieser Information berechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine anfängliche Überdeckung durch einen etwaigen Jahresverlust aufgezehrt wird. Zusätzlich können sie quantifizieren, unter welchen plausiblen Szenarien eine anfängliche Überdeckung aufgebraucht würde, und sie können abschätzen, wie wahrscheinlich das Eintreten solcher Szenarien ist.
Dieses Verständnis erlaubt es dem Verwaltungsorgan und dem Leitungsorgan des Versicherers, das Risiko einer Unterdeckung in einem akzeptablen Rahmen zu halten, und geeignete Steuerungsmassnahmen festzulegen.
Fazit: Das Zielband für die Reserve muss die Situation des einzelnen Versicherers berücksichtigen.
Das ist mit der bestehenden Möglichkeit zum freiwilligen Reserveabbau bereits möglich, ohne neue Probleme zu schaffen.
Weiterführende Informationen
Unter diesem Link steht ein ausführlicherer Artikel mit Quellenangaben zur Verfügung.
Über den Autor
Dr. Andreas Troxler ist Aktuar SAV, FCAS, Professional Risk Manager (PRM) und Certified Enterprise Risk Actuary (CERA).
Als Geschäftsführer der Firma AT Analytics AG bietet er unabhängige aktuarielle Beratung für Kranken- und Schadenversicherer sowie Captives an. Während seiner Laufbahn hat er mehrere Versicherer zu Fragestellungen der Solvenz, Rekapitalisierung und Kapitalmodellierung beraten. Nebst diesem Themenkreis übernimmt er Mandate als Verantwortlicher Aktuar gemäss VAG, sowie Beratungsmandate zu Themen der Reservierung, Tarifierung und Datenanalytik. Hierbei gilt sein Hauptinteresse der Anreicherung unternehmenseigener mit externen Daten, sowie der Verbindung von traditionellen mit modernsten Analysetechniken aus dem Bereich des maschinellen Lernens und der künstlichen Intelligenz.
Andreas Troxler setzt sich dafür ein, dass relevante Entscheidungsgremien der Wirtschaft und Politik über ausreichendes versicherungstechnisches Fachwissen verfügen oder darauf zurückgreifen können.
Insbesondere vertritt er die Ansicht, dass aktuarielles Fachwissen im Kompetenzprofil des Gesamtverwaltungsrates von Versicherern vertreten sein sollte, besonders in Zeiten erhöhter Unsicherheit und wachsenden Drucks aus der Politik.